in May in Die Zeit. Here is just the link:
http://www.zeit.de/2012/19/Gespraech-Handke-Bondy/seite-1
Handke über Frankreich: Der stille Amoklauf der Verlorenen
Europa
blickt am Sonntag nach Frankreich, das seinen Präsidenten wählt. Peter
Handke lebt hier seit 22 Jahren. Wir trafen den Schriftsteller und
sprachen mit ihm über Sarkozy, Hollande, den Aufschrei der Verzagten und
den verblichenen Traum von Größe.
Peter
Handke wirkt müde. Er hat sich ein Fahrrad gekauft und ist damit
hundert Kilometer durch die Picardie im Norden Frankreichs gefahren. Es
ist eine sanft geschwungene Hügellandschaft - viele kleine romanische
Kirchen und weite Rapsfelder. Er mag es, wenn der Sommer naht, sagt
Handke.
Am
Vormittag hat es in Chaville bei Paris geregnet, jetzt bricht die Sonne
durch. Der Dichter lädt die Gäste ein, am alten Holztisch im Garten
Platz zu nehmen. Am Abend zuvor war er in der kleinen heruntergekommenen
Bar unten am Eck, die ein alter vereinsamter Algerier betreibt, und hat
sich das Fernsehduell zwischen Nicolas Sarkozy und François Hollande
angeschaut.
Wie empfinden Sie Sarkozy und Hollande?
PETER
HANDKE: Sarkozy hat in den vergangenen Jahren an Statur gewonnen und an
Reife. Man spürt die Erfahrung, eine gewisse Musikalität der Macht. Er
hat sich gewandelt. Auch die Stimme ist anders geworden und der Blick.
Und auch eine gewisse Traurigkeit und Ironie der Macht sieht man bei
ihm.
Würden Sie ihn wählen?
HANDKE: Ich würde ihn nie wählen. Auch, weil er einen Krieg gemacht hat gegen Libyen.
Und Hollande?
HANDKE:
Bei dem habe ich überhaupt kein Gefühl. Ich habe nur Abwehr. Das ist
ein Mensch, der Sozialist spielt. Der wirkt so, als säße er vor dem
Spiegel und redete sich selbst an. Der sieht niemand anderen. Ein
seltsamer neuer Sozialist, für den es den anderen gar nicht mehr gibt.
Bei Sarkozy dagegen kann man sich was vorstellen.
Was denn?
HANDKE:
Ich stelle mir ganz gerne vor, wie er mit seiner Carla im Bett liegt,
er so klein und sie so groß. Bei Hollande kann man sich überhaupt nichts
vorstellen an Leben. Bei Hollande, da hängen so wie bei mir fast schon
die Augenwinkel herunter. Das ist kein Mensch. Der funktioniert einfach
gut. Aber was ist seine Vision von der Gesellschaft, vom Menschen?
Hollande will einen starken, fürsorgenden Staat.
HANDKE:
Mit Vision ist eine Poesie verbunden. Wo ist seine Poesie? Wenn er die
Stimme erhebt, fängt er zu krächzen an. Seine Gesten erinnern an eine
Vogelscheuche. Er ist wie ein seltsamer Vogel und die Vogelscheuche in
einem. Er ist aber sehr geistesgegenwärtig. Nur Geistesgegenwart ist
überhaupt nicht das Gleiche wie Geist. Hollande ist sehr funktionell.
Bei Sarkozy spürt man dagegen, vielleicht durch die Besorgnis,
irgendeine Art von Leben, von unterirdischem Leben. Da ist etwas
dazugekommen, das durchdringt und nur sein kann, wenn man es schon immer
hatte: eine Seele.
Warum sind die Franzosen seiner dann so überdrüssig?
HANDKE:
Die Franzosen sind Jakobiner. Das kommt aus der Revolution. Die möchten
immer jemanden niedertreten. Das ist nicht einmal politisch, sondern
etwas Furchtbares, Archetypisches. Den König getötet zu haben, daraus
bezieht eine gewisse Masse noch immer ihren Stolz: Wir haben einen König
erledigt. Diese Wollust spürt man bis heute.
Uns überrascht, wie hart Sie über Hollande urteilen. Immerhin sind ihm viele zugetan.
HANDKE:
Die sind ihm überhaupt nicht zugetan. Die denken, das ist ein
Hampelmann. Schon wie er schaut. Er spielt den Tribun, den
Massenbeweger.
Tun das nicht beide?
HANDKE:
Ein guter Schauspieler, der spielt, spielt etwas Wahres, der spielt
irgendetwas vom Menschen mit. Das tut Sarkozy. Bei Hollande spielt
nichts mit von einem Menschen. Der spielt nur den Spieler.
Gab es französische Präsidenten, die Sie beeindruckt haben?
HANDKE:
Vielleicht De Gaulle. Der hatte eine Geschichte, der ist als General in
eine Geschichte hineingeraten, der er standgehalten hat.
Und Mitterrand?
HANDKE:
Eine einbalsamierte Figur. So wie Lenin am Roten Platz. Der ist nichts
als ein Schlaumeier gewesen. Ein Marionettenspieler, der wusste, wie er
die Fäden ziehen muss. Ein Zyniker, der als Innenminister im
Algerienkrieg kommunistische Widerstandskämpfer hat hinrichten lassen.
Dass wird nie verzeihen werden. Aber die Macht ist halt Shakespeare.
Jeder Politiker ist ein Killer.
Sie diabolisieren.
HANDKE: Nein, Politiker müssen killen. Selbst ein kleiner Bürgermeister muss killen. Der muss Feinde haben.
Wenn Sie so reden: Was ist Ihr Ideal eines Politikers?
HANDKE:
Er muss aus der Situation, aus dem Problem heraus sprechen, aus seiner
Freude, seinem Enthusiasmus, auch aus seinem Kummer, seiner Wut.
Sechs
Millionen Franzosen haben im ersten Wahlgang für Marine Le Pen und die
äußerste Rechte gestimmt. Das sind doch nicht alle Neonazis. Was macht
diese Leute so empfänglich für die Feindbilder, das Ressentiment, das
Antieuropäische?
HANDKE:
Der Zuspruch kommt zu einem erheblichen Teil aus einer Bitternis, aus
Hilflosigkeit, aus einem "Ich-Weiß-Nicht-Mehr-Was-Tun".
Bitternis worüber?
HANDKE:
Dass sich niemand um sie kümmert. In Lothringen im Osten sind alle
Stahlarbeiter verschwunden. Die Arbeitslosigkeit ist gewaltig. Ein
Viertel der Arbeiter, die immer Sozialisten oder Kommunisten waren,
wollen jetzt ein Zeichen setzen, obwohl das Zeichen überhaupt keinen
Sinn hat. Das wissen die auch selber. Das sage ich jetzt nicht als so
genannter Kommentator als Arschloch. Das ist fast ein physikalischer
Impuls von diesen Leuten. Die sagen Nein. Die haben vielleicht sogar
eine Idee von Frankreich. Sie sagen: "Ich habe meinen Garten". So ein
Schrebergarten ist ja nicht nur eine Dummheit. Das ist ja etwas
Gewaltiges, Schönes. Das muss man nicht verächtlich machen. Die sagen
also: "Jetzt bin ich umgeben von Leuten, die nichts zu tun haben, mit
meiner Landschaft, wo ich als Kind war, wo ich vielleicht gebräutelt
habe", wie man auf Österreichisch sagt.
Aber sind nicht auch die Zugewanderten Verlorene?
HANDKE:
Das ist eine tragische Geschichte. Ich mag die Zugewanderten. Die aus
Afrika kommen, die Stromableser, Automechaniker und Installateure. Die
sind wie mein Wirt am Eck oft vierzig Jahre hier und dürfen noch immer
nicht wählen. Schwierig sind die Jungen, die Nachkömmlinge. Die machen
Krach. Lärm ist Aggression. Den anderen gibt es nicht. Einfach verloren
sein im eigenen Land, bei den eigenen Vorfahren. Das ist ja nicht ganz
ohne, Vorfahren zu haben: Wo ich herkomme, wo diese Linien der
Landschaft gehen, oder der Horizont. Und den Horizont gibt es nicht
mehr. Der Horizont ist versperrt von Lärm und Missachtung. Dann wähle
ich mit einem gewissen Kummer oder aus Wut oder Ratlosigkeit diese
Marine Le Pen.
Man wählt das Verfemte?
HANDKE: Ja, gerade das Verbotene. Das ist eine Art stiller Amoklauf der Verlorenen. Der führt natürlich zu nichts.
Wie passt diese düstere Grundstimmung, die Sie da beschreiben, zum stolzen Selbstbild Frankreichs?
HANDKE: Dieser Stolz, worauf soll der beruhen? Das ist ein verblichener Traum.
HANDKE: Überall, wo man hinfährt. Jedes Dorf ist groß. Das
hat
aber nichts mit Kriegerdenkmälern zu tun, sondern mit dem Bauerntum,
mit der Vielfalt von Baum- und Erdfrüchten. Frankreich ist seelisch ein
Fruchtland.
Wo wird dieses bäuerliche Frankreich, das Sie preisen, für Sie besonders greifbar?
HANDKE:
Wir sind hier nur zwei Kilometer von Versailles entfernt, nach
Versailles fangen sofort die Äcker und Fruchtgärten an. Heute ist
natürlich alles fragmentiert und Brüssel bestimmt, was wo angebaut wird.
Aber allein, wie jetzt über den Äckern die Lerchen anfangen zu steigen,
in verschiedenen Etagen: Gibt es das in Österreich? Fünf Kilometer vor
Paris, das ist ein Zeichen. Lerchen sind dort, wo etwas wächst. Nicht
Unkraut. Fruchtbares. Bis Rennes, bis ans Meer, bis in die Bretagne, bis
Quimper oder Lorient: überall Lerchen. Und überall Wälder von
Edelkastanien. Das ist Fruchtland, altes Königsland. Man könnte das Volk
noch heute bei einer Hungersnot ernähren. Ganz Frankreich ist
durchflochten von Essbarem.
Spüren Sie die Kraft des Landes auch bei den Leuten?
HANDKE:
Nein, auf dem Land ist da eher große Verzagtheit. Jedes Mal, wenn ich
aufs Land fahre, ist wieder eine Bäckerei zu, oder eine Bar. Jedes Mal
ein anderes Geschäft. Und überall steht: "Zu verkaufen". Die Pariser
ziehen hin und nehmen die Sachen aus den Supermärkten mit. Manchmal
denke ich mir: Vielleicht kommt ja alles wieder zurück. Dass die Städter
aufhören, auf dem Land Städter zu spielen und Gentlemenfarmer. Dass sie
sich wirklich kümmern um jeden Moment von Boden. Bei jedem Wind und bei
jedem Wetter.
Sie leben jetzt bald ein Vierteljahrhundert in diesem Land. Wie sehr hat Frankreich Sie geprägt?
HANDKE: Das müssen Sie mir sagen. Ich weiß es nicht.
Erkennen Sie gar nichts Französisches an sich?
HANDKE:
Nein, ich bin Österreicher. Ich möchte nicht Franzose sein. Ich bin ein
Zugewanderter. Und ich versuche auch, die Bescheidenheit eines
Zugewanderten zu behalten. Aber gerade die Zugewanderten legen dann oft
besonders los, wenn ihnen etwas nicht passt.
Sie auch?
HANDKE: Ich auch.
Was passt Ihnen nicht?
HANDKE: Vieles.
Was hält Sie hier?
HANDKE:
Meine Enklave, wie ich das nenne. Die Verantwortung für den Flecken
Erde, den ich nicht verkommen lassen möchte, für das Haus, das ich gerne
habe. Für die Leute, die es gebaut haben. Allein wenn ich das
Stiegenhaus anschaue: Wie das gedrechselt ist. Ich habe eine große
Achtung davor, auch vor dem Abgesplitterten.
Und der Garten?
HANDKE:
Da habe ich weniger Achtung, weil der ist von mir. Verantwortlich fühle
ich mich aber auch für den Wald, die Wälder hier. Wenn Leute hier
lärmen und herumballern, dann gehe ich sogar als Auswärtiger und
Zugewanderter auf sie zu und sage: Haut ab!
Der Sheriff von Chaville?
HANDKE: Ja, wäre ich gerne. Hilfssheriff.
Hauen sie dann ab?
HANDKE: Ich sage denen, das ist Wald hier. Das sind königliche Wälder.
Und dann halten die Störenfriede inne und gehen?
HANDKE: Natürlich nicht. Aber für einen Moment, für zwei Sekunden sind sie still. Und dann geht es noch lauter los.
Was mögen Sie noch an Frankreich, wenn Sie Ihre Enklave hinter sich lassen?
HANDKE:
Die Kreuzwege in den Wäldern, die sich wie Sterne treffen. Man geht und
geht und sieht die Horizonte. Ich mag das Licht hier, das Licht der
Île-de-France, den Himmel. Ich mag auch, wie Paris gebaut ist. Dass die
Straßen bis an den Stadtrand hinaus gehen und man die hintersten Hügel
sieht. Ich mag die Regionen, die Bretagne, das Languedoc, die Normandie,
die Provence und Burgund. Das ist etwas anderes als Hessen oder Bayern.
Sogar Lothringen! Allein das französische Wort dafür: Lorraine. Da
macht die Geschichte die Hügel zusätzlich schwingen. Frankreich ist
schon ein großes Land! Was da auch an Schriftstellern war: Montaigne,
Rabelais, Molière, die herrlichen Komödien von Molière! Und Marivaux!
Was für eine Anmut! Was für eine Lässigkeit!
Sie sprechen von der Natur und von Toten, wenn Sie über Ihr Frankreich reden. Was ist mit den Lebenden. Meiden Sie die?
HANDKE:
Ich bin nicht gegen Menschen. Ich mag die Gemeinschaft. Ich mag die
einfachen Leute. Aber wenn man unter zu vielen Menschen ist, sieht man
nichts. Natürlich gibt es die Passanten auf der Straße. Schon ihre
Silhouetten sind schön in Frankreich, sind eleganter als anderswo. Auch
die Frauen. Das ist natürlich alles verlogen. Aber es ist eine schöne
Lüge.
Was ist anders an den Frauen?
HANDKE:
Die Art, wie sie reden und sich bewegen. Diese Erdenschwere ist nicht
da, die man manchmal aus Mitteleuropa kennt. Dafür kann man bei uns
diese Mozartsche und Schubertsche Anmut bei Frauen beobachten. Das ist
auch wieder rührend. Im Salzburger Land, in Kärnten, überall sind die
Frauen andhandke-ueber-frankreich-stille-amoklauf-verlorenen.story?seite=2ers. Hier in Frankreich spielen die Mädchen sehr früh Frau.
Manchmal kann es einen ärgern, manchmal kann es einen rühren, entflammen
auch. Als Älteren.
Werden Sie bleiben?
HANDKE: Wo soll ich denn hin?
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